Der türkische Staat bietet Schutz vor Verbrechen "im Namen der Ehre":
1. Der türkische Staat ist grundsätzlich willens und in der Lage, gegen kriminelle Übergriffe durch Privatpersonen einzuschreiten und den Betroffenen Schutz zu gewähren. Dies gilt auch für Blutrachetaten, die vom türkischen Staat, unabhängig von der Volkszugehörigkeit hart geahndet werden. Ein lückenloser staatlicher Schutz ist dabei keine Voraussetzung für die grundsätzliche Annahme der Schutzwilligkeit.
2. Ein Asylantrag kann gem. § 30 Ab. 1 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, wenn der Vortrag ohne Belang, also wenn er in wesentlichen Punkten derart pauschal und oberflächlich ist, dass es an Tatsachenbehauptungen fehlt, die als wahr unterstellt werden könnten. Dies gilt auch dann, wenn die geltend gemachten Verfolgungshandlungen nicht an ein Konventionsmerkmal i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpfen.
(Leitsätze der Redaktion; andere Ansicht VG Chemnitz, Urteil vom 20.12.2016 - 4 K 2612/14.A - asyl.net: M25585, VG Osnabrück, Urteil vom 16.09.2014 - 5 A 136/13 - asyl.net: M22602)
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Nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung des Asylantrags nicht von Belang sind. Nach der Gesetzesbegründung umfasst die Regelung die nach § 30 AsylG a.F. geregelten Fälle, in denen die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen (§ 30 Abs. 1 AsylG a. F.), insbesondere, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält (§ 30 Abs. 2 a. F.) oder, wenn es sich nach dem Inhalt des gestellten Antrags nicht um einen Asylantrag im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylG handelt (§ 30 Abs. 5 AsylG.) [...].
Dies dürfte aber nicht so zu verstehen, dass alle zuvor unter § 30 Abs. 1 AsylG a. F. gefassten Sachverhalte nun § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unterfallen sollen. Denn vor der Gesetzesänderung hatte die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung angenommen, dass § 30 Abs. 1 AsylG a. F. über die Vorgaben des Unionsrechts hinausgeht und deshalb unionsrechtskonform dahingehend einzuschränkend auszulegen war, dass das Offensichtlichkeitsurteil zugleich auch auf Art. 31 Abs. 8 Richtlinie 2013/32/EU gestützt werden können musste [...].
Ohne Belang für die Prüfung des Asylantrags sind von dem Ausländer vorgebrachte Umstände danach zum einen dann, wenn sie selbst im Fall der Wahrunterstellung keinen Schutzstatus begründen können [...].
Zudem ist das Vorgebrachte für die Prüfung auch dann nicht von Belang, wenn das Vorbringen in tatsächlicher Hinsicht in für den Asylantrag wesentlichen Punkten derart pauschal und oberflächlich ist, dass es an Tatsachenbehauptungen fehlt, die als wahr unterstellt werden könnten [...].
Davon zu unterscheiden ist, dass der Vortrag des Asylsuchenden lediglich unglaubhaft oder unsubstantiiert ist, für das Asylgesuch des Betroffenen relevante Tatsachen aber geschildert werden. Dann kann eine Ablehnung des Antrags als offensichtlich unbegründet nicht auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (und auch nicht auf § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) gestützt werden [...].
Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft fehlt es bereits, wie schon das Bundesamt in dem angegriffenen Bescheid ausgeführt hat, daran, dass die geltend gemachten Verfolgungshandlungen durch die Familie nicht an ein Konventionsmerkmal i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpfen. [...] Der türkische Staat ist in der Lage und willens, Schutz vor ernsthaften Schäden durch Gewalt zu bieten, die von Familienmitgliedern drohen. In der Türkei kommt es zwar immer noch innerfamiliären Gewalttaten zum Schutz der Ehre und dabei sogar zu sogenannten "Ehrenmorden“. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen über die Verhältnisse in der Türkei ist jedoch nicht anzunehmen, dass der türkische Staat erwiesenermaßen nicht willens oder in der Lage wäre, in Fällen angekündigter Blutrache oder Straftaten zur Wiederherstellung der "Ehre der Familie" mit rechtsstaatlichen Mitteln vorzugehen und die Betroffenen wirksam vor Bedrohungen durch die verfeindete Familie zu schützen. Art. 462 des türkischen Strafgesetzbuches, der eine Strafmilderung für Verbrechen vorsah, die zum Schutz der Familienehre begangen werden, wurde im Juni 2003 durch Art. 19 a des Gesetzes Nr. 4928 abgeschafft. Art. 82 des seit 1. Juni 2005 geltenden türkischen Gesetz Strafgesetzbuches sieht für eine vorsätzliche Tötung aus Gründen der "Ehre" lebenslange Haft vor. Seit dem Jahr 2004 wurden mehrfach sogenannte Ehrenmorde mit lebenslangen Haftstrafen geahndet. Der türkische Staat ist (u.a. angesichts seiner Gesetzgebung) grundsätzlich willens und in der Lage, gegen kriminelle Übergriffe durch Privatpersonen einzuschreiten und den Betroffenen insoweit Schutz zu gewähren. Nach den vorliegenden Erkenntnissen gilt dies gerade auch für Blutrachetaten, die vom türkischen Staat hart geahndet werden, und zwar unabhängig von der Volkszugehörigkeit der betroffenen Familien bzw. der Täter, da diese den staatlichen Interessen wegen Verstoßes gegen das staatliche Straf- und Gewaltmonopol zuwiderlaufen [...].
Dass der türkische Staat einen lückenlosen Schutz insoweit nicht gewährleisten kann, liegt auf der Hand und steht der Annahme einer grundsätzlichen Schutzbereitschaft und -fähigkeit nicht entgegen. Vor diesem Hintergrund wird auch in der Rechtsprechung davon ausgegangen, dass der türkische Staat in der Lage und willens ist, Schutz vor familiärer Gewalt und namentlich Blutrachetaten zu bieten. [...]