Rechtsprechungsübersicht zu Entscheidungen infolge des EuGH-Urteils »Gnandi«

In der Rechtssache Gnandi entschied der EuGH im Juni 2018 über Grundfragen des gerichtlichen Rechtsschutzes im Asylverfahren, die sich einerseits aus dem Refoulement-Verbot des Art. 33 Abs. 1 GFK, andererseits aus dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf des Art. 47 GR-Charta ergeben. Zudem äußerte er sich zu der Frage, ob und wie eine ablehnende Asylentscheidung mit einer Rückkehrentscheidung verbunden werden darf. Ob das Rechtsschutzsystem im deutschen Asylrecht im Hinblick auf das EuGH-Urteil den europarechtlichen Verfahrensgarantien genügt, wird unterschiedlich bewertet.

Der EuGH (M26457) entschied zunächst, dass der Erlass der Rückkehrentscheidung in Verbindung mit der ablehnenden Asylentscheidung möglich ist, auch wenn Rechtsmittel gegen letztere noch nicht ausgeschöpt sind. Damit das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gewahrt bleibt, sei die Rückkehrentscheidung jedoch während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs gegen die Asylentscheidung und bei Einlegung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf voll auszusetzen. Auch eine Inhaftierung sei in dieser Zeit nicht möglich. Zudem sei Betroffenen ihr Aufenthalt zu gestatten und die Rechte aus der EU-Aufnahmerichtlinie seien zu gewährleisten. Bis zum Ende des Rechtsbehelfsverfahrens müsse für Betroffene die Möglichkeit bestehen, alle wesentlichen Änderungen geltend zu machen, die einen Einluss auf die Rückführungsentscheidung haben können. Im Hinblick auf ein faires und transparentes Rückkehrverfahren bestehe die Pflicht, Betroffene umfassend und verständlich über ihre Rechte und die Wirkungen eines Rechtsbehelfs zu informieren (siehe asyl.net Meldung vom 22.8.2018).

Auswirkungen auf Ablehnungen als »offensichtlich unbegründet

Im Hinblick auf das deutsche Rechtsschutzsystem ist zwischen einfacher Ablehnung und als »offensichtlich unbegründet« qualifizierter Ablehnung des Asylantrags zu unterscheiden. Bei einfacher Ablehnung des Asylantrags sind die vom EuGH benannten Verfahrensgarantien gewährleistet. Denn eine Klage gegen die ablehnende behördliche Entscheidung hat in diesem Fall aufschiebende Wirkung und die Ausreisefrist von 30 Tagen beginnt erst mit Rechtskraft der Entscheidung zu laufen. Zudem bleibt der Aufenthalt der Betroffenen gestattet. So entschied auch der VGH Baden-Württemberg (M26949).

Schwieriger gestaltet sich die Situation bei einer Ablehnung eines Asylantrags als »offensichtlich unbegründet« und einer damit verbundenen Rückkehrentscheidung. Denn in diesen Fällen hat die Klage gemäß § 75 Abs. 1 AsylG von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung und die gesetzlich vorgegebene Ausreisefrist beträgt gemäß § 36 Abs. 1 AsylG lediglich eine Woche. In den uns vorliegenden Entscheidungen sind diese Fragen Kern der rechtlichen Debatte:

  • Ist die einwöchige Ausreisefrist europarechtskonform bzw. kann sie so ausgelegt werden?
  • Genügt eine gerichtliche Entscheidung im Eilrechtsverfahren den Anforderungen des EuGH an einen wirksamen Rechtsbehelf?
  • Muss grundsätzlich die aufschiebende Wirkung angeordnet werden?

Bei der Bewertung, ob die deutsche Rechtslage europarechtskonform ist, kommt der einwöchigen Ausreisepflicht eine besondere Bedeutung zu. Deren Beginn wird vom BAMF häufig mit Bekanntgabe des Bescheids festgesetzt. Sie läuft damit parallel zur einwöchigen Rechtsbehelfsfrist, sodass sich hier Schwierigkeiten in Hinblick auf die vom EuGH geforderte volle Wirksamkeit des Rechtsbehelfs ergeben. In diesem Zusammenhang wird argumentiert, dass eine einwöchige Frist zur Einlegung eines Eilantrags nur dann vorgegeben werden könne, wenn, wie es Art. 46 Abs. 7 der Asylverfahrensrichtlinie (EU/32/2013) bestimmt, unentgeltlicher Rechtsbeistand und Übersetzung gewährleistet sind. Ausserdem würde der eingeschränkte Prüfungsrahmen Art. 74 GR-Charta nicht genügen, der eine umfassende inhaltliche Prüfung fordert. Da der EuGH vorgegeben hat, dass Betroffenen ein Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung zwar nicht gegen Asylentscheidungen, wohl aber gegen Rückkehrentscheidungen, zur Verfügung stehen muss, wird teilweise davon ausgegangen, dass § 75 AsylG gegen EU-Recht verstößt. Hinsichtlich der Bedeutung der EuGH-Entscheidung für das nationale Rechtsschutzsystem spielt auch die Frage eine Rolle, ob von dem vom EuGH geforderten Rechtsbehelfsverfahren auch das nationale Eilrechtsverfahren umfasst ist oder ob es sich dabei um das Hauptsacheverfahren handeln muss. Letzteres würde bei der jetzigen Rechtslage bedeuten, dass im Eilrechtsverfahren immer die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet werden müsste, damit das Hauptsacheverfahren ohne voriges Bestehen einer Ausreiseverpflichtung durchgeführt werden kann.

Prüfungsumfang im Eilrechtsverfahren verdichtet?

Bei der Bewertung dieser Fragen ist der lediglich summarische Prüfungscharakter des Eilrechtsverfahrens zu betrachten. So wird etwa kritisiert, dass die in § 36 Abs. 3 AsylG vorgesehenen Einschränkungen des gerichtlichen Eilverfahrens den Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie nicht genügen würden. Das Bundesverfassungsgericht (M27063) entschied dazu, dass bei der Abweisung eines Asylantrags als »offensichtlich unbegründet« im Eilverfahren die Frage der Offensichtlichkeit erschöpfend geklärt und über eine lediglich summarische Prüfung hinausgehen müsse. In keiner der uns vorliegenden Entscheidungen wird jedoch die Offensichtlichkeitsentscheidung des BAMF umfassend geprüft oder angezweifelt.

Europarechtskonforme Auslegung der Ausreisefrist?

In den uns vorliegenden Entscheidungen lehnen einige Gerichte die Eilrechtsanträge ab und legen im Hinblick auf das »Gnandi-« Urteil die vom BAMF angeordnete Ausreisefrist so aus, dass die verfügte Ausreisefrist mit Bekanntgabe des negativen Eilrechtsbeschluss erneut zu laufen beginne. Das VG Stuttgart (M26952) begründete dies mit einer »unionsrechtlichen Korrektur« der angeordneten Ausreisefrist. Das VG Minden geht von einer sich aus den europarechtlichen Vorgaben ergebenden gesetzlichen Vollzugshemmung bei Einlegung des Rechtsbehelfs aus. In der einzigen uns hierzu vorliegenden obergerichtlichen Entscheidung entschied das OVG Nordrhein-Westfalen (M27264), dass die Anordnung der Ausreisefrist europarechtskonform sei, da sie durch den eingelegten Rechtsbehelf unterbrochen werde und mit Bekanntgabe einer ablehnenden gerichtlichen Entscheidung erneut zu laufen beginne. All diesen Entscheidungen liegt die Auslegung zugrunde, dass ein Bleiberecht lediglich bis zur einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsverfahren gewährleistet sein muss.

Das VG Arnsberg (M27046) und das VG Aachen (M26940) hingegen gehen davon aus, dass die nationalen Regelungen europarechtswidrig sind und geben jeweils dem Eilantrag statt. Das VG Arnsberg begründet dies damit, dass aufgrund der EuGH-Entscheidung bis zu einer gerichtlichen Entscheidung im Hauptsacheverfahren alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung ausgesetzt werden müssen. Nach Aufassung des VG Aachen bleibe aufgrund der Ausreisefrist unklar, ob Betroffenen nach negativem Abschluss des Eilrechtsverfahrens überhaupt noch eine Frist zur freiwilligen Ausreise gewährt werde und wenn ja, in welcher Länge.

Verletzung von Informationspflichten

Wird die deutsche Rechtslage insoweit also weitgehend als europarechtskonform eingestuft, wird zugleich jedoch darauf hingewiesen, dass bei der Verbindung der Rückkehrentscheidung mit der Asylentscheidung Betroffene in transparenter Weise über die durch den EuGH vorgegebenen Garantien aufgeklärt werden müssen. Hinsichtlich dieser Informationspflichten betonen der VGH Baden-Württemberg und das OVG Nordrhein-Westfalen zwar die Notwendigkeit der Belehrungsplicht über die Einhaltung der vom EuGH benannten Garantien. Verstöße gegen Informationsplichten würden sich jedoch nur im Einzelfall auf die Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung auswirken. Das OVG Nordrhein-Westfalen sieht die Rechtswidrigkeit einer Rückkehrentscheidung nur dann als gegeben an, wenn die angegriffene Entscheidung bei Einhaltung der Informationspflichten anders ausgefallen wäre. Der VGH Baden-Württemberg fordert, dass durch den Verstoß eine Gefährdung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung aufgetreten ist oder autreten wird.

Fazit

In den uns vorliegenden Entscheidungen zeichnet sich die Tendenz ab, dass das nationale Rechtsbehelfssystem bei als »offensichtlich unbegründet« abgelehnten Asylanträgen für europarechtskonform gehalten wird. Die gesetzliche Regel, dass in solchen Fällen die Klage keine aufschiebende Wirkung hat, wird nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen. Entsprechend wird Eilrechtsanträgen nicht allein aufgrund der »Gnandi-« Entscheidung stattgegeben. Das Eilrechtsverfahren soll einen ausreichenden Rechtsbehelf darstellen, obwohl der Prüfungsumfang eingeschränkt ist. Um ein mit den vom EuGH vorgegebenen Verfahrensgarantien vereinbares Rechtsbehelfsverfahren zu gewährleisten, sollten zukünftig die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Vorgaben zur Prüfungsdichte im Eilverfahren eingehalten werden. Doch auch dann sind die Rechte der Betroffenen nur eingeschränkt gewährleistet, da im Eilrechtsverfahren in der Regel ohne mündliche Verhandlung entschieden wird. Somit bietet das Eilrechtsverfahren nicht den effektiven Rechtsschutz, wie er in einem Hauptsacheverfahren gewährleistet ist.

Entscheidungen:

  • Rechtsprechung zu diesem Thema findet sich in der Entscheidungsdatenbank mit dem Schlagwort "Gnandi"

Anmerkung:


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